In einem historischen Roman sagte ein weiser jüdischer Heiler: "Mitleid ist die böse Stiefschwester des Mitgefühls. Sie ergötzt sich am Leid des anderen und teilt nicht die Freude."
Der oder die Autor:in möge mir verzeihen, ich weiß weder seinen/ihren Namen, noch den Buchtitel. Aber den Satz habe ich mir notiert, weil er so prägnant ist.
Kennst Du Deine Vorstellungen von Mitleid und Mitgefühl? Wie würdest Du die beiden Begriffe erklären? Spürst Du Unterschiede oder ist beides das Gleiche für Dich? Ich lade Dich ein auf eine sprachliche und sensitive Entdeckungsreise!
Was bedeutet der Satz des Heilers nun genau? Ich vermute mal, dass viele von uns in der Erziehung durch das Christentum geprägt sind. Dort ist viel die Rede von Mitleid. Uns wurde beigebracht, dass das etwas Gutes, Edles ist. Aber sind wir im Mitleid tatsächlich nützlich für den Leidenden? Wie fühlst Du Dich, wenn Du mit-leidest, also auch im Leid bist? Stark und liebevoll, in Deiner eigenen Kraft, so dass Du dem anderen eine Stütze sein kannst? Oder vielleicht hilflos, kopflos, unruhig, am liebsten weglaufen wollend? Für mich ist eher die letzte Beschreibung zutreffend. Die erste drückt mehr das Mitgefühl aus, aber dazu komme ich später. Also, wenn das Mitleiden Dich hilflos, kopflos macht und Fluchttendenzen in Dir auslöst, glaubst Du dann, dass Du für Dein Gegenüber im Moment des Leides ein Anker sein kannst? Versetze Dich in die andere Person oder überlege Dir, ob Du mal erlebt hast wie jemand anderer mit Dir leidet. Wie war das, wenn es Dir selbst schlecht ging und Deinem Gegenüber damit auch? Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich dann auch am liebsten weggelaufen wäre. Ich fühlte mich dann hilflos und hatte den Eindruck, die andere Person noch vor meinem Leid schützen zu müssen, mich nicht so zeigen zu dürfen, wie es mir in dem Moment ging. Vielleicht erscheint sogar ein Gefühl der Schuld, weil Dein Leid der Grund für das Leid des anderen ist? Und ich vermute auch mal, dass Du Dich dann sehr alleine fühlst, nicht gesehen, nicht unterstützt. Gib Dir mal die Zeit, dem nachzuspüren.
Ich möchte jetzt eine Erklärung aus meiner Sicht und aus meiner Intuition heraus für das Phänomen des Mitleids wagen. Und dazu erst mal die kühne Behauptung: Mitleid ist kein Mitleid, sondern eigenes Leid! ??? Ich sehe es so, dass in der vermeintlich mitleidenden Person durch die Wahrnehmung des Leides vom Gegenüber das eigene (verdrängte) Leid angetriggert wird. Es ist dann unbewusst und die Person weiß auch nicht, um welches Leid es sich handelt. Das kann ein wirklich diffuses Mischmasch aus den Folgen traumatischer Erlebnisse sowie den damit verbundenen Schul- und Schamgefühlen sein. Natürlich ist das dem Menschen nicht bewusst, insbesondere, wenn er Mitleid auch noch als edel empfindet. Und durch dieses Gefühl des Leidens mit dem anderen kann aus dem eigenen Dampfkochtopf des Leidens etwas Dampf ablassen werden. Es ist aber ungefährlich, weil man ja nicht explizit mit den eigenen Themen konfrontiert wird. Ich habe das im Nachhinein bei mir selbst bemerkt. Als Dipl.-Sozialarbeiterin habe ich oft traumatisierte Menschen beraten und später erkannt, dass ich ihre manchmal ziemlich ausführlichen Schilderungen benutzt habe, um bei mir etwas (eigenes) Leid wahrzunehmen und damit minimal loszulassen. Edel finde ich das nicht. Aber letztendlich hat die Reflexion darüber mich auf meinem Weg weiter gebracht und ein tieferes Verständnis erzeugt.
Noch ein Aspekt des Mitleids ist, sich der leidenden Person überlegen fühlen zu können. Wie fühlst Du Dich , wenn ein anderer Mensch Dir sagt oder zu verstehen gibt, dass Du so arm dran bist und Du ihm oder ihr so sehr leid tust? Verstanden und gesehen? Unterstützt und wertgeschätzt in Deinem Zustand? Oder klein und wertlos? Alleine und hilflos, weil jemand glaubt beurteilen zu können, wie es Dir geht? Selbst wenn Dir das nicht so bewusst ist, wirst Du wahrscheinlich ein diffuses Unbehagen bei so einem Verhalten Deines Gegenüber verspüren. Kannst Du Dich an solche Situationen erinnern? Wenn ja, lade ich dich ein, mal nachzuspüren wie es war. Auch dieses Verhalten dient meiner Meinung dazu , das eigene Leid auf diese Weise wirkungsvoll zu verdrängen. Das ist für mich mit dem "sich ergötzen am Leid des anderen" (siehe Zitat am Anfang des Artikels) gemeint. Indem ich dem anderen Menschen mitteile, dass er/sie mir so sehr leid tut und er/sie so arm dran ist, mache ich ihn/sie klein und mich selbst vermeintlich größer. Ich selbst leide also nicht, da es mir so viel besser geht. Und im Umkehrschluss kann ich natürlich Freude nicht teilen, weil es mir (unbewusst) nur darum geht, das eigene Leid nicht zu spüren.
Was ist nun mit dem Mitgefühl, wie unterscheidet es sich vom Mitleid? Der wichtigste Punkt: im Mitgefühl fühle ich mich mit dem anderen Menschen verbunden. Ich spüre zwar auch das Leid, und gleichzeitig ist es ein schönes, erfüllendes Gefühl im Herzen. So nehme ich es zumindest wahr. In dem Moment bin ich mit dem anderen Menschen von Herz zu Herz verbunden und kann sowohl Leid als auch Freude teilen und spüren. Es ist ein Gefühl der Verbindung und das hilft dem anderen Menschen, weil er sich gesehen, verstanden und nicht alleine gelassen erlebt. Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe, bei der jede Person gleichwertig ist in ihrem Sein. Im Mitleid bin ich vom anderen Menschen getrennt, weil ich ja mein eigenes Leid spüre bzw. verdränge. Diese Trennung ist bei mir im Bereich Solarplexus, also etwas oberhalb des Nabels, als Druck wahrnehmbar. Schau mal bei Dir, was sich wo zeigt! Und womit Du dich wohler und dem anderen Menschen näher fühlst.
Letztendlich ist es fatal, sich den eigenen Schmerzen, den unbewussten Schattenanteilen nicht zu stellen, sie nicht ansehen zu wollen. Je mehr das Leid verdrängt wird, desto größer wird die Angst davor und diese lähmt uns. Menschen, die sich so verhalten, brauchen Hilfe auf ihrem Weg. In ihrem Mitleid spiegelt sich die eigene Bedürftigkeit: das Gefühl der Wertlosigkeit, der Einsamkeit, der Hilflosigkeit. Ich möchte jetzt nicht so ausführlich darauf eingehen, denn es führt zu Themen aus dem Bereich Trauma. Aber grundsätzlich - und darum geht es meiner Meinung nach immer - ist es wieder die mangelnde Selbstliebe, die mangelnde Selbstannahme und das fehlende Vertrauen in sich selbst, die Mitgeschöpfe und das Leben.
Lass diesen Beitrag auf dich wirken, lese ihn vielleicht mehrmals! Und dann spüre in dich hinein, ob etwas auf dich zutrifft. Und vor allem: fühlst Du Dich damit wohl oder nicht? Ich unterstütze Dich gerne, wenn du das Thema noch weiter beleuchten und auflösen möchtest! Natürlich kann es auch gut sein, sich weitere professionelle therapeutische oder ärztliche Hilfe zu suchen. Insbesondere dann, wenn wir feststellen, dass tatsächlich traumatische Erfahrungen der Auslöser waren.
Kommentar hinzufügen
Kommentare